26 Mai 2022

Fehlende Arbeitszeiterfassung? Überstunden müssen trotzdem nachgewiesen werden

Während das deutsche Arbeitsrecht nur in bestimmten Fällen das Aufzeichnen von Arbeitszeiten vorschreibt, fordert die europäische Rechtsprechung dies generell. Trotzdem können Arbeitnehmer aus der fehlenden Aufzeichnung von Pausenzeiten nicht einfach einen Anspruch auf Überstundenvergütung ableiten. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.

Immer wieder Streithema: Überstundenvergütungen

Wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, gibt es nicht selten Konflikte darüber, ob alle Lohnansprüche beglichen wurden. Neben der Auszahlung von Urlaub, Zulagen oder Provisionen werden häufig auch Mehr- und Überstunden zum Thema: besonders dann, wenn strittig ist, wie viel der Mitarbeiter tatsächlich gearbeitet hat.

Vor kurzem entschied das Bundesarbeitsgericht: Die Forderung von Überstundenvergütungen durch den Arbeitnehmer lässt sich nicht allein mit Lücken in den Arbeitszeitaufzeichnungen untermauern. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Die Beweispflicht für geleistete Stunden liegt beim Mitarbeiter, nicht beim Arbeitgeber.

Aufzeichnungspflicht von Arbeitszeiten

Die Entscheidung passt zur sonstigen Rechtsprechung des BAG in solchen Fällen. Sie wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es nicht vor einiger Zeit ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Erfassung von Arbeitszeiten gegeben hätte. Der EuGH hatte im Mai 2019 aus europäischem Recht die Pflicht zur durchgehenden Aufzeichnung von Arbeitszeiten abgeleitet, zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers. Das schlug damals große Wogen. In erster Linie stellte die Entscheidung eine Aufforderung an die Mitgliedsstaaten dar, entsprechende Vorschriften zu erlassen.

Das BAG-Urteil signalisiert Arbeitgebern nun Entspannung, soweit es um Entgeltforderungen geht: Selbst wenn die Arbeitszeiten nicht detailliert aufgezeichnet wurden, droht keine Welle an Nachforderungen für behauptete Überstunden, deren Nicht-Ableistung der Arbeitgeber nicht beweisen kann.

Der Fall: ein Lieferfahrer ohne Pausenzeiten?

Geklagt hatte ein Lieferfahrer, nachdem er gekündigt hatte. Er verlangte vom Arbeitgeber zum Ende seines Arbeitsverhältnisses die Nachbezahlung von 348 Überstunden – mehr als 5.000 Euro. Von seinen Arbeitstagen war zwar der Beginn und das Ende erfasst worden. Pausenzeiten wurden aber nicht vermerkt. Dem Fahrer zufolge hatte es keine Pausen gegeben. Er habe stets durchgearbeitet.

Dem Arbeitsgericht Emden als erster Instanz genügte das : Da der Arbeitgeber kein „objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem“ im Sinne des EuGH-Urteils installiert hatte, mit dem er die Ansprüche widerlegen konnte, gestand es dem Fahrer die Nachzahlung zu. Das Landesarbeitsgericht Niedersachen sah es in der Berufung jedoch anders. Im Unterschied zum Arbeitsschutz sei der EuGH für Fragen der Vergütung gar nicht zuständig. Das EuGH-Urteil habe keinen Einfluss auf die Darlegungs- und Beweislast nach deutschem Recht. Das Bundesarbeitsgericht schloss sich dem an (BAG, 4. Mai 2022 – 5 AZR 359/21). Der Fahrer bekam keine Überstundenvergütung.

Es bleibt dabei: Überstunden muss der Arbeitnehmer beweisen

Die BAG-Entscheidung macht klar, dass Arbeitnehmer in solchen Fällen auch weiterhin eine doppelte Beweispflicht haben:

  • Sie müssen nachweisen können, dass sie die strittige Mehrarbeit bzw. die Überstunden wirklich abgeleistet haben, z. B. durch Arbeitszeitaufzeichnungen, Zeugenaussagen, Fahrtenschreiber oder andere Beweismittel.
  • Außerdem müssen sie überzeugend belegen, dass der Arbeitgeber diese zusätzlichen Stunden angeordnet, geduldet oder gebilligt hat.

Anmerkung: Keine Entgeltpflicht für Überstunden auf eigene Faust

Ein Anspruch auf Bezahlung von Mehrarbeit und Überstunden besteht nur, wenn der Arbeitgeber sie verlangt hat oder zumindest einverstanden ist. Das Abnicken kann auch nachträglich geschehen. Der Mitarbeiter kann jedoch nicht von sich aus und ohne Wissen des Arbeitgebers mehr arbeiten als vereinbart und dann dafür Bezahlung fordern.

Das „Anordnen, Dulden oder Billigen“ durch den Chef muss nicht ausdrücklich erfolgen. Auch „konkludentes“ Handeln genügt, etwa wenn Vorgesetzten die Überstunden klar mitbekommen und nichts dagegen sagen, oder wenn sie kurz vor Feierabend noch den Auftrag für eine weitere Lieferfahrt erteilen, die am selben Tag erfolgen muss.

Trotzdem: Nur mit genauer Arbeitszeiterfassung sind Arbeitgeber auf der sicheren Seite

Die große Klagewelle nach Vergütung fiktiver Überstunden wird ausbleiben. Das ändert allerdings nichts daran, dass Arbeitgeber eine Arbeitszeiterfassung installieren sollten. Sie dient dem Selbstschutz und der internen Transparenz. Das EuGH-Urteil verlangt von der Bundesregierung ohnehin eine entsprechende Änderung der Gesetze.

Es geht dabei keineswegs um die Rückkehr zur Stechuhr des letzten Jahrtausends. Arbeitsrechtlich spricht nichts gegen flexible Arbeitszeitmodelle und selbst bestimmte Stundenverteilungen oder dagegen, dass die Mitarbeiter Arbeits- und Pausenzeiten eigenverantwortlich festhalten. Entscheidend ist, dass alle Arbeitszeiten durchgängig dokumentiert werden, und zwar nicht nur am Arbeitsplatz in der Firma. Schließlich wird oft über Arbeitszeiten im Home Office oder unterwegs gestritten. Auch dort sollte immer klar sein, wann gearbeitet wurde oder Bereitschaftszeiten vorlagen. Technisch ist das schließlich längst kein Problem mehr.

Weitere Infos von Paychex zu Überstunden und Arbeitszeiten:

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